Samstag, 1. Mai 2021

Ein Denkmal für Lenin

aus: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt
Mittwoch, 30. Oktober 1929, Erstes Morgenblatt, Titelseite


Frankfurter Zeitung, 30.10.1929

Aus dem Russischen übersetzt von Mascha Schillskaja.

Viele fruchtbare Steppen gab es einst in Fergana [in Usbekistan]. Am [Fluss] Syr-Darja breiteten sich fette Felder aus. Weizen, Gerste, Hafer und Reis blühten dort.

Doch jetzt sind um Fergana die Himmel hell und die Gärten dort sind schattig und kühl. Gärten und Steppen fallen wie blaue Wasserfälle in die Sandwüste, in die trostlose Einsamkeit und die giftigen Sümpfe. Diese Gegend war einst der Schauplatz großer Völkerwanderungen, Riesenstädte wogten hier, in großen Häusern wohnten Kaufleute, Schuster und Könige. Die Jünglinge liebten stürmisch, Chane [singular: Khan; Herrschertitel v.a. in Zentralasien] bekämpften einander, und friedlich starben Greise. Jetzt wirbelt und rieselt hier Sand und verweht die Spuren der Völker und die letzten traurigen Reste der Feuerstellen. Winde kommen vom kaspischen Meer, Hasen werden vom Sumpf eingesogen, und die Mücken schwärmen über diesen Sümpfen, sind mächtiger als Raubvögel. Einmal in 14 Tagen kommt durch die Station Kujan-Bulak die Eisenbahn.

Sie pfeift schon in weiter Ferne, stößt an den scharfen Kurven, hinter den Sandwehen, heisere Schreie aus oder trillert jung und unternehmungslustig. Der Stationsvorsteher setzt dann seine neue Mütze auf und geht hinaus, um das Signal auf Einfahrt zu stellen. Ruft die Lokomotive jung und schrill, so heißt das, daß sie an der kleinen Station Kujan-Bulak vorbeisausen wird, auf dem Bahnsteig wird nur ein wenig Rauch zurückbleiben und der Geruch von langen Strecken. Schreit sie jedoch heiser und aus letzter Kraft, so weiß man, daß der Zug in Kujan-Bulak halten wird. Er wird Wasser, Hoffnung und Neuigkeiten mitbringen. Dann versammelt sich auf dem Bahnsteig ganz Kujan-Bulak. Der Schuster Wasili Solnze und die Frau des Vorstehers in einem vorsintflutlichen Kittel, Semjon Nikirisch Trobka und auch die Rotarmisten, weißblonde, heute Nordländer. Den Schwanz des heisergeschrienen Zuges bilden zwei Zisternen, sie stoßen mit den Puffern gegeneinander, mit roter Ölfarbe sorgfältig gemalt, tragen sie die Inschrift "Für Petroleum", darunter aber steht mit Kreide geschrieben "Für Trinkwasser". Dieses Wasser ist für Kujan-Bulak bestimmt und soll für zwei Wochen reichen. Es riecht immer nach Petroleum, aber alle haben sich daran gewöhnt und merken es nicht mehr. Wasser ohne diesen Geruch würde den Einwohnern von Kujan-Bulak merkwürdig und unsauber erscheinen. Sie sind der Meinung, daß alles Wasser der Erde nach Petroleum und Eisenrost schmeckt. Die Heizer und Arbeiter dieses Bummelzuges schrauben lange an den Puffern herum, klirren mit Ketten, fluchen, rauchen [den Tabak] Machorka und kriechen aus irgendeinem Grunde unter den Zug. Die Einwohner von Kujan-Bulak betrachten sie voller Freude und nie verfliegender Neugier.

Dann fährt der Zug weiter. Der andere Zug mit der jungen, frischen Stimme rast vorbei, hinter seinen Fenstern liegen fremde, ferne Welten wie im Nebel. Man erhascht im Fluge nur verschwommene Gesichter, Koffer und Teekannen. Manchmal hat man das Glück, den Bruchteil eines Liedes zu erwischen, aber alles zerflattert sofort im Wind. Lange, lange blickt der Schuster Wasili Solnze dem Zuge nach, seine Augen sind gebannt an die Eisenbahnschienen, an die Stahllinien menschlicher Wanderungen. Der Stationsvorsteher und der Schuster Wasili, die Frau des Vorstehers in ihrem vorsintflutlichen Kittel, Semjon Trobka und auch die Posten der Rotarmisten, sie gehen alle wieder nach Hause. Die Station ist wieder still, Menschen gibt es hier wenig, der Himmel ist hell und die Mückenschwärme sehr groß. Der Schuster Solnze geht in sein Haus, wo sich hinter den verräucherten Geranienstöcken im Fenster viele saure Gurken, Mandolinenblättchen und aus irgendeinem Grund eine Unmasse leerer Salmiakflaschen befinden.

Semjon Trobka hat den Bahnsteig verlassen und sieht im Fenster Agripina Lwowna, die Frau des Stationsvorstehers. Sie starrt auf die Schienen und hat sich in ihren Schlafrock gehüllt, auf dem Vögel, Wolken, Reiter und Blumen gemalt sind. Sie friert, sie wird derart vom Fieber geschüttelt, als säße sie in einem Bauernwagen. Die weißblonden, hellhäutigen Rotarmisten liegen auf ihren Pritschen und von allen Pritschen ist Zähneklappern zu hören. Vor einem Jahr sind sie hierher gekommen, um die Station vor Überfällen zu schützen. Sie sind alle miteinander starke, russische Riesenkerle, aber sie leiden alle zusammen an einer Krankheit – dem Heimweh. Wenn sie ihre Anfälle bekommen, krümmen sie sich und träumen alle von den großen, zartgrünen Wiesen um Sudalj oder Kaluga. Außerdem haben sie die an solchen Orten übliche Malaria.

Sobald es Abend wird, fangen alle Einwohner an, vor Kälte zu zittern. Von der höchsten Instanz, dem Bahnvorsteher an, bis zu den halbwilden Sarden, die in ihren Jurten [Zelte der Nomaden] hausen, alle leiden sie an der schrecklichen Sumpfkrankheit, Malaria. Es ist eine grausige Stunde, wenn die Sonne hinter den Sandwehen verschwindet. Hinter dem Bahnhof schimmern die weißen Berge aus Kamelknochen, und hinter diesem uralten Kamelfriedhof erhebt sich surrend und singend eine dichte Wolke von Stechmücken. Der Stich der Malariamücke ist scharf und ihr Summen ist durchdringend. Die ganze Bahnstation ist erfüllt von dem Mückengesang, die Mückenschwärme dringen durch die geschlossenen Fensterläden in die Häuser und verkriechen sich unter die Kleider der Menschen. Dann hocken die armen, verwaisten Sarden, Nachkommen der khokandischen Chane, die Peter der Große kolonisierte, in ihren Jurten, vom Fieber geschüttelt, träumen sie von den fernen, wunderbaren Gärten in Namanhan, dort ist es kühl und schattig und durch wilde Apfelbäume und Ahorne leuchtet eine milde, gelbe Sonne. Währenddessen murmeln die Rotarmisten mit heißen Lippen auf ihren Pritschen. "Um diese Zeit stehen bei uns im Kalugaschen die Wälder in voller Blüte und die Kühe kalben."

Um die Malaria zu unterdrücken, muß man den Sumpf mit einer Schicht Petroleum begießen, aber auf der Station Kujan-Bulak gibt es kein Petroleum, bis zur Stadt ist es weit, und man hat viel Scherereien, wenn man derartiges unternehmen will.

So lebten und leben noch heute viele kleine Eisenbahnstationen in Sowjetrussland. Der Bahnhofsvorsteher hat außer mit seiner Frau und den paar Leuten auf der Station mit keinem Menschen sonst länger als fünf Minuten gesprochen; denn die Züge halten nie länger als fünf Minuten. Im vergangenen Jahr jedoch wurde diese welke und einsame Station der Schauplatz eines großen Ereignisses.

Ende Dezember [1928] veranlaßte Stepa Gamaleew, der Rotarmist, im Einverständnis und Mitwirkung des Bahnvorstehers, des einzigen administrativen Vertreters, und mit Hilfe Wasilis Solnze, dem einzigen Vertreter des Proletariats, eine Versammlung aller Einwohner von Kujan-Bulak. Wasili Solnze ging die einzige Straße des Orts entlang und bat alle, morgen bei Sonnenaufgang auf der Station Hasenquell zu erscheinen. Die Einwohner von Kujan-Bulak rissen sich von ihren Webstühlen los und blickten lange dem Manne nach. Am anderen Morgen war ganz Kujan-Bulak am Hasenquell erschienen. Stepa Gamaleew ergriff das Wort und wandte sich an die bescheidenen Bürger des S.S.S.R. Er sprach davon, daß der Tag, an dem man Lenins gedenken soll, nahe sei. Er sprach davon, daß an diesem Tag in Moskau und in allen Sowjetstaaten der Republik von dem Leben und den Taten dieses Mannes gesprochen werde und daß in seinem Heimatdorf, im Kalugaschen, sich alle Bauern in der Lesehalle versammeln werden. Er sagte, daß auch das kleine vergessene Kujan-Bulak sich einen Lenin aus Gips anschaffen müsse. Die verwaisten, armen Nachkommen der khokandschen Chane träumten nicht mehr von den Wundergärten Namanhans, sie lauschten aufmerksam dem fremden Mann, und schwiegen. Als Stepa Gamaleew zur kaufmännischen Prosa überging und ihnen klar machte, daß man Geld brauchte, um sich einen solchen Lenin anzuschaffen, da nickten sie verständnisvoll mit den Köpfen in den hohen, spitzen Mützen. Nachdem eine Woche vergangen war, brachten sie die Erzeugnisse ihrer Arbeit, die ihnen manche schlaflose Nacht gekostet hatten, mit der klappernden Eisenbahn in die Stadt. Mit viel Feilschen und Handeln verkauften sie ihre Teppiche an die Kaufleute, und nach Hause zurückgekehrt gaben sie den vierten Teil ihres Verdienstes dem russischen Mann, für Lenin.

In Kujan-Bulak gibt es keine Dämmerung. Die Nacht geht hier sofort in den grellen Tag über, als hätte man an einem elektrischen Lichtschalter gedreht, und ebenso schnell verwandelt sich der grelle Tag in eine finstere Nacht. Immer heftiger schüttelte das Fieber die Einwohner dieser kleinen Station. Wie ein schwelender, giftiger Brand brütete die Malaria über der Station, und es war kaum möglich, Atem zu holen. Im Januar, vor der Abreise Stepas und Wasilis zur Stadt, um den verabredeten Einkauf zu besorgen, fand an dem Hasenquell eine zweite Versammlung aller Bewohner von Kujan-Bulak statt.

Diesmal kamen alle ohne Hemmungen, und Stepa Gamaleew sprach wieder gute Worte, die den Sarden tief ins Herz drangen. Er sagte, daß Kujan-Bulak ein einziges Fieber wäre. Um es zu unterdrücken, wäre es notwendig, den Sumpf hinter dem uralten Kamelfriedhof mit einer dünnen Schicht Petroleum aus [dem Ort] Semipalatinsk zu übergießen, davon sterben die Mückenschwärme. Es wäre besser, für das gemeinsame Geld Petroleum zu kaufen an Stelle der Gipsfigur; denn dann würden die Sarden und die Russen nachts nicht mehr vom Fieber geschüttelt werden. Und es wäre auch ein weit besseres Denkmal für Lenin; denn er hat sich immer um die Sarden und Turkmenen und andere Volksstämme gekümmert. Die Sarden begriffen ihn sofort und nickten heftig mit den Küpfen in den hohen, spitzen Mützen.

Nach zwei Wochen, am 21. Januar [1929], kam wie gewöhnlich der Zug nach Kujan-Bulak, und wie gewöhnlich schrie er an den scharfen Kurven schon von weitem mit heiserer Stimme. Der Bahnvorsteher setzte seine neue Mütze auf und ging hinaus, um das Signal auf Einfahrt zu stellen. Und wie immer verließ ganz Kujan-Bulak die Webstühle und kam zur Station. Diesmal brachte der Zug drei Zisternen mit. Die dritte enthielt Petroleum. Der Zug wurde mit Freudengeschrei empfangen, die frühere Schläfrigkeit war wie weggeblasen. Die Maschinisten, die ein Menschenalter diese Strecke fuhren, wunderten sich. In Kujan-Bulak ist Lärm? Und als der Zug nach fünf Minuten die Station verließ und nur ein wenig Rauch zurückblieb und der Geruch weiter Strecken, da machten sich die Einwohner von Kujan-Bulak unter der Führung von Stepa Gamaleew an die Arbeit.

Die armen, verwaisten Nachkommen der khokandschen Chane nahmen gefüllte Eimer in die Hände und gingen alle einträchtig zum Sumpf. An diesem Tage fanden in der ganzen Republik Meetings und Versammlungen statt, an diesem Tag wurden in Städten und Dörfern begeisterte Reden gehalten und gute Taten verrichtet zum Andenken Lenins. Das Requiem brauste über Flecken, Dörfer und große Städte. Über dem Sumpf hinterm Hasenquell flossen schwarze Petroleumströme.

Sollten Sie einmal die mittelasiatische Eisenbahnstrecke benutzen und die kleine Station Kujan-Bulak passieren, so müssen Sie wissen, dass dieser Name Hasenquell bedeutet. Der Zug hält da nur fünf Minuten, und Sie werden, wenn Sie Zeit haben, am Bahnhofsgebäude einen roten Fetzen erblicken mit der Inschrift: "An dieser Stelle sollte das Denkmal Lenins stehen, aber statt des Denkmals kaufte man Petroleum und goß es über dem Sumpf. So hat Kujan-Bulak zum Andenken und im Namen Lenins die Malaria erstickt."

Sie werden kaum Zeit haben, diese Inschrift zu Ende zu lesen, denn der Zug hält nur fünf Minuten, die Lokomotive wird mit ihrer heiseren Stimme unruhig aufschreien und in die gelbe Sandwüste sausen. Sie werden an einigen Häusern vorbeirasen, in deren Fenstern verräucherte Geranienstöcke stehen, über die Sandwehen werden zu Tode erschrocken graue Hasen davonspringen.

Die Geschichte spielt 1928/29 irgendwo im Ferghanatal in Usbekistan, an einer Zwischenhaltestelle der Zentralasiatischen Eisenbahn. Weitere Hintergründe: https://jacobin.de/artikel/wie-die-teppichweber-von-kujan-bulak-lenin-ehrten-bertolt-brecht-hanns-eisler-sozialismus-expressionismusdebatte/

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